Die Sache mit der Vergebung
- koselimke
- 15. Feb. 2022
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Feb. 2022

Heute möchte ich mal über ein Herzens-Thema von mir schreiben. Vergebung. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Thema. Das erste Mal bin ich damit in Berührung gekommen, als ich mit 15 Jahren angefangen habe aktiv zur Kirche zu gehen. Im christlichen Glauben ist Jesus das Sinnbild für die Vergebung. Wirklich verstanden habe ich aber nie, was es heißt zu vergeben und ich glaube, das geht den meisten von uns so. Die Institution "Kirche" ist da auch nicht unbedingt ein Vorbild, was dieses Thema angeht.
Ich denke, dass ich vor ein paar Tagen den Durchbruch hatte - die Erkenntnis was Vergebung bedeutet und wie wir es schaffen können zu vergeben.
Also, macht euch einen Tee, lehnt euch zurück und lauscht bzw. lest andächtig. Alle Angaben sind, wie immer, ohne Gewähr - Los geht es:
Vergebung ist eine Entscheidung und zwar in erster Linie eine Entscheidung für dich. Du kannst anderen vergeben, aber auch dir. Uns selbst zu vergeben kommt uns meist so skurril vor, dass wir darüber gar nicht nachdenken, obwohl auch das extrem wichtig ist. Dennoch habe ich mich, der Einfachheit halber, dazu entschieden in diesem Text nur davon zu schreiben, anderen zu vergeben.
Wenn du einem Mensch vergibst, entscheidest du dich dafür, deine Energie, deine Kraft zurückzuholen. Gleichzeitig lässt du die Person frei und gibst ihr auch ihre Energie, ihre Kraft zurück. Vergebung heißt, das was geschehen ist, in der Vergangenheit zu lassen - also an dem Platz wo es geschehen ist.
Was passiert ist, ist passiert. Du kannst nichts mehr daran ändern. Wenn du eine Person verletzt hast, dann ist es geschehen. Wenn eine Person dich verletzt hat, ist auch das geschehen. Es liegt in der Vergangenheit und es kommt nur zurück zu dir, wenn du es aus der Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart holst und dort festhältst.
Einem Menschen zu vergeben heißt, nicht zu vergessen was geschehen ist oder das was geschehen ist gutzuheißen bzw. auf irgendeine Art und Weise zu bewerten. Das ist ein Irrglaube.
Wir wollen nicht vergeben, weil wir glauben der Person die uns verletzt hat, damit zu sagen: „ Hey, alles cool. War gar nicht so schlimm. Ich vergebe dir jetzt und damit ist alles vergessen und wir können weiter machen wie vorher“. Deshalb sträuben wir uns so sehr dagegen Menschen zu vergeben. Da wir diesem Irrglauben verfallen sind, halten wir an dem Geschehenen fest.
Wir kreisen (gefühlt) den ganzen Tag darum, wir fragen uns warum die Person das gemacht hat, wie sie uns das nur antun konnte, wir ertrinken im Schmerz, in der Wut, in der Trauer, unsere ganze Energie ist bei der Person, der wir im Grunde ja gar keine Energie und Aufmerksamkeit mehr schenken möchten, weil sie uns so weh getan hat. Wir halten aber weiterhin an dem Geschehenen fest und drehen uns immer weiter im Kreis. Wir wollen Gerechtigkeit für das was uns passiert ist. Wir wollen Bestätigung für unseren Schmerz. Wir wollen auch ein bisschen leiden. Geht es uns besser, wenn wir den Schmerz festhalten? Geht es uns besser, wenn wir gedanklich immer wieder durchspielen was uns diesen Schmerz zugefügt hat? Geht es uns besser, wenn wir gedanklich immer wieder bei der Person sind, die uns diesen Schmerz zugefügt hat? Ich denke, ihr werdet mir alle zustimmen, wenn ich sage: Nö!
Es bringt uns keinen Schritt vorwärts. Wir geben dadurch einer Situation oder Person Macht über uns. Das was passiert ist, ändert sich aber nicht im geringsten.
Sind wir mal ehrlich, wir neigen ja dazu zu dramatisieren. Besonders dann, wenn wir mit einer anderen Person Streit haben. Je öfter wir die Story anderen erzählen, desto mehr dichten wir uns dazu. Wir sagen zu Person 1: „Heute hat Horst gesagt, dass er mich nicht mag.“ Der dritten Person erzählen wir: „Heute hat Horst gesagt, dass er mich nicht mag und mich hässlich findet.“ Bei der zehnten Person ist in unserem Hirn schon eine Synapse explodiert und folgendes passiert: „Horst hat gesagt, dass ich eine elendige, fette Planschkuh bin und er den Tag verflucht an dem wir uns kennengelernt haben. Allein der Gedanke an mich, treibt ihn in den Selbstmord!“
Warum tun wir das? Bei „Horst mag mich nicht“, könnte ja folgende Reaktion kommen „Ja, ach der Horst hatte bestimmt nur einen schlechten Tag“. Bei der letzten Version wird unser Gegenüber mit ziemlicher Sicherheit sagen „Also, der Horst ist doch echt ne ätzende Bumsbirne. Der spinnt wohl, was ein Arsch“. Somit hat Horst Schuld und wir unsere Bestätigung.
Wir glauben, dass es Horst schlecht geht, wenn wir ihm nicht vergeben. Vielleicht geht es ihm aber nicht schlecht, vielleicht ist Horst richtig gut drauf und tanzt nackig im Regen. Schonmal darüber nachgedacht? Könnte sein… Wir wissen es nicht. Horst ist das vielleicht sogar schnurzpiepe wie wir drauf sind, der mag uns ja eh nicht. Horst ist gut drauf und wir sind schlecht drauf. Lasst doch Horst gut drauf sein und uns lieber dafür entscheiden auch wieder gut drauf zu sein. Horst ist gut drauf, wir sind gut drauf, alle sind gut drauf. Es geht uns nur so lange schlecht, so lange wir möchten, dass es uns schlecht geht.
Natürlich ist das jetzt ein „lustiges“ Beispiel. Es gibt wirklich furchtbare Sachen die Menschen widerfahren, die Menschen anderen Menschen antun oder sich selber. Ich möchte das gar nicht klein reden. Ich bin dennoch der festen Überzeugung, dass jeder Mensch auf dieser Welt in der Lage ist Heilung und Vergebung zu erfahren. Ich kann mich entscheiden, dass ich meinen Schmerz heile. Heilung ist immer möglich, egal wie tief und grausam der Schmerz ist. Ich weiß das, weil ich es selbst schon erlebt habe und auch immer wieder erleben darf.
Wenn wir vergeben, bleibt der Schmerz/das Gefühl in uns erstmal noch da. Das ist völlig normal. Früher dachte ich, wenn ich einem Menschen vergebe, tut es nicht mehr weh. Der Schmerz verpufft, glitzernder Feenstaub rieselt auf mich hinab und ich schwebe auf einer rosafarbenen Wolke ins Paradies. Pustekuchen. So funktioniert es nicht. Wenn wir verletzt werden, tut es weh. Eine Verletzung braucht Zeit um zu heilen. Wenn wir uns tief in den Finger schneiden und eine offene Wunde entsteht, ist die Haut dort ja auch nicht innerhalb von zwei Tagen wieder zusammengewachsen. Heilung braucht immer Zeit. Zeit und Liebe.
Die Gefühle können noch mal wieder hoch kommen. Es kann sein, dass wir einen schlechten Tag haben und doch wieder Wut oder Trauer oder Enttäuschung spüren. Auch das ist normal und darf sein.
Vergebung geht, meiner Meinung nach, Hand in Hand mit Schuld einher. Ich bin mittlerweile an einem Punkt, an dem ich mich wirklich immer öfter frage ob es „Schuld“ überhaupt gibt oder ob das nur etwas ist, was wir Menschen uns in unserem Kleinglauben ausgedacht haben. Wer entscheidet über Schuld? Über richtig und falsch? Über gut und schlecht? Wir. Wir selber entscheiden darüber, wir richten - über uns und auch über andere.
Oder ist es euch schon passiert, dass ihr gelogen habt und in der gleichen Sekunde ist euch die Zunge abgefallen… einfach so, weil ihr halt Schuld habt. Schuld ist etwas, was wir uns selbst auferlegen oder uns von anderen auferlegt wird. Da wir alle individuell sind, haben wir alle auch unterschiedliche Vorstellungen von Richtig/Falsch, Gut/Böse, Schuldig/Nichtschuldig - das richtet sich ganz einfach nach unserem Wertesystem. Wenn ich lügen ganz furchtbar finde, verurteile ich natürlich jemanden der mich anlügt. Während die Person vielleicht denkt „Ach so eine Notlüge hat noch keinem geschadet“. Wenn ich einen Streit mit einer Person habe und das zwei Freundinnen unabhängig voneinander erzähle, kann es sein, dass die eine mir komplett zustimmt und es genauso schlimm findet wie ich, während die andere es nicht im Ansatz nachvollziehen kann und nicht begreift, warum ich mich so aufrege.
Wenn ich an „Schuld“ denke, wird es mir direkt schwer ums Herz. Ich fühle regelrecht eine Last auf meinen Schultern, die mich runterdrückt. Wie unfair ist es einer Person diese Last aufzuerlegen? Einer anderen Person zu sagen: Du hast Schuld an meinem Unglück! Puh. Ich möchte mich davon gar nicht frei sprechen, auch ich habe das schon getan - Schuld ausgesprochen, einfach, weil ich das so empfunden habe und ich wollte auch, dass mein Gegenüber die Schuld trägt. Warum sollte ich nur allein leiden? Der andere soll gefälligst auch leiden! Ich wollte, dass der andere die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, ich wollte aber nicht die Verantwortung über mein Handeln tragen.
Vielleicht denkt ihr jetzt: Was will sie? Wovon schreibt die Frau da? Ich weiß, dass dieses Thema sehr komplex ist und leicht verwirrend sein kann. Besonders dann, wenn wir uns das erste Mal damit auseinandersetzen.
Ich sach mal so: Vergebung ist der Endgegner. Wenn du das Level durchgespielt hast, stehst du am Ende vor der Vergebung - wer das schafft, kommt ins Ziel und hat gewonnen. Der hat die Prinzessin aus dem Turm befreit.
Wenn wir nicht vergeben und an unserem Schmerz festhalten, sperren wir uns selber in den Turm, rufen den „Drachenverleih-Service“ an, bestellen uns den größten und gefährlichsten Drachen, damit wir ja auch sicher gehen in dem ollen Turm gefangen zu bleiben und verbüßen dort unsere Tage. Wollen wir das? Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich möchte es nicht. Fragen die ich mir in schwierigen Situationen immer stelle, sind: Was habe ich davon einen Schmerz festzuhalten, wütend auf eine Person zu sein, traurig über eine Situation zu sein? Hilft mir das in meinem Leben weiter, wenn ich daran festhalte? Was kann ich daran ändern? Wenn ich merke, dass ich nichts davon habe, dann suche ich nach Lösungen um wieder einen Schritt in Richtung Freiheit gehen zu können und dann komme ich automatisch zum Thema „Vergebung“.
Ich vergebe lieber, versuche das verletzte Herz von meinem Gegenüber zu sehen und mir zu sagen: Egal wie sehr mir das hier gerade auch weh tut, der anderen Person muss es vorher umso mehr weh getan haben, sonst hätte sie es nicht gemacht. Nennt mich naiv, aber das ist mir lieber, als irgendwann eine alte, verbitterte, griesgrämerische Frau zu sein, die kleine Kinder, die auf ihr Grundstück kommen, mit Steinen abwirft und Babykatzen ertränkt.
Ich glaube zudem, dass eine Person uns nur dann verletzen kann, wenn der Schmerz schon vorher in uns war. Unsere wunden Punkte, bilden sich in unserer Kindheit, dort beginnt es und dort sitzt auch der Schmerz. Ein anderer kann diesen Schmerz in uns nur triggern und wieder an die Oberfläche holen. Im Grunde, können wir der Person sogar dankbar sein, denn alles was uns durch andere aufgezeigt wird, können wir in die Heilung bringen. Einem Menschen der uns verletzt hat, dankbar zu sein, ist das nächste Level. Ich schlage vor, wir spielen erstmal dieses Level zu Ende und beschäftigen uns mit Dankbarkeit ein andern Mal.
Ich bin davon überzeugt, dass nur ein verletzter Mensch einen anderen Menschen verletzt. „Hurt people, hurt people“. Auch das hilft mir im Hinblick auf die Vergebung. Ein Mensch, der frei und glücklich ist, der verletzt einen anderen Menschen nicht. Stell dir vor du bist total verliebt, du schwebst auf Wolke 7, Herzen fliegen dir aus den Augen, du möchtest die ganze Welt umarmen, jeden an deinem Glück teilhaben lassen… wenn es dir so geht, gehst du dann los und drückst jemandem einen fiesen Spruch? Mit Sicherheit nicht! Weil du auf Liebe schwingst, du hängst in den Wolken, du bist glücklich. Wir verletzen nur dann, wenn wir selber verletzt sind (und das sind wir nunmal leider alle irgendwie). Wenn wir nicht wissen wohin mit unserem Schmerz, fangen wir an um uns zu schlagen und die erste Person (meist sind es die, die uns am nächsten sind), bekommt es ab. Das macht es nicht besser, aber wie gesagt: Es geht beim vergeben auch nicht ums werten.
Mir hilft es zu verstehen, dass niemand einfach so verletzt. Sowas hat immer einen Grund.
Wenn ihr in einer Situation seid, in der ihr verletzt wurdet, dann dürft ihr erstmal all die damit einhergehenden Gefühle da sein lassen. Die Entscheidung jemandem zu vergeben braucht Zeit und Geduld. Ihr werdet merken, wenn es soweit ist. Bei mir kommt dann eine Ruhe auf, ich schaffe es die Situation zu akzeptieren und so zu lassen wie sie eben ist. Ich kann auch meinen Anteil an der Situation sehen, denn alles hat auch immer was mit uns selbst zu tun.
Ich verabschiede mich von der Vergangenheit. Wenn ich genügend Tränen darüber geweint habe, genug geschrien und gewütet habe, sehe ich in meine Zukunft. In meiner Zukunft sehe ich eine Frau die in Frieden mit sich und der Welt lebt, mit sich und anderen. Die bei sich selbst angekommen ist und dort bleibt. Diese Frau hat vergeben und somit tue ich das im Jetzt und Hier - wer in der Gegenwart vergibt, ist in der Zukunft frei.
Danke danke danke!!! Denn Ansatz kannte ich schon, aber erst jetzt habe ich es verinnerlicht.