Mein Vater hatte Demenz. Demenz ist eine Krankheit des Vergessens. Eine Krankheit, bei der Menschen bzw. deren Persönlichkeiten nach und nach verschwinden, bis irgendwann das Licht ausgeknipst wird und nur noch die Hülle da ist. So habe ich es bei Papa empfunden. Irgendwann war sein Licht aus und ich bin dankbar, dass er sich kurz darauf von dieser Welt verabschieden konnte. Ein Mensch, ohne Licht, ist kein Mensch mehr. Wenn die Persönlichkeit geht, bleibt nicht mehr viel übrig. Für mich als Angehörige war es ein stetiger Prozess des Abschied Nehmens, er wurde nach und nach weniger und so sagte ich nach und nach „Auf Wiedersehen“.
Als die Diagnose gestellt wurde, war meine Tochter ein paar Wochen alt. Da er alleine in einem großen Haus wohnte, war uns allen schnell klar, dass wir eine Lösung finden mussten. Alleine konnte er sich nicht mehr versorgen.
Ich weiß noch, dass ich zu meinem Mann ging und sagte „Ich ziehe nicht zu ihm, auf keinen Fall, das schaffe ich nicht“. Ein paar Monate später zogen wir bei ihm ein.
Nach drei Wochen war ich mit den Nerven bereits am Ende… da gab es den ersten großen Streit. Es gab ständig Streit, ums Lüften, ums Wäsche waschen, ums Zähneputzen … ich weiß nicht wie oft ich die blöde Waschmaschine wieder eingeschaltet habe, nachdem er sie ausgeschaltet hatte. Es war anstrengend, herausfordernd und emotional völlig überwältigend. Nicht zu vergessen, dass schlechte Gewissen, welches sich jeden Tag meldete, wenn ich mal wieder genervt war - schließlich konnte er nichts für sein Verhalten, nervte mich aber dennoch damit.
Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich nach dem fünften Mal anfing zu meckern „Das habe ich dir doch gerade schon gesagt!“… bis mir dann wieder einfiel, dass er es ja bereits wieder vergessen hatte.
Natürlich wollte Papa sich nicht von „seiner Jüngsten“ vorschreiben lassen, dass er sich morgens und abends doch bitte die Zähne putzen sollte oder wann er zu duschen hatte oder, oder, oder… Ich war für ihn immer noch „die Kleine“, die ihn aber auf einmal wie ein Kind behandelte. Manchmal hatte er einen klaren Moment, dann sagte er „Ich werde langsam plem plem, oder?“.
Es gab natürlich auch immer wieder lustige Momente. Ein Mensch mit Demenz verliert auch Taktgefühl, das Gefühl dafür, nicht alles was man denkt auch laut auszusprechen. Besonders lustig war es mit ihm immer beim Arzt, im Wartezimmer. Jeder Mensch der rein kam, wurde von ihm professionell begutachtet und bewertet… „Na, die ist aber auch ein bisschen zu pummelig“, „Guck mal, der Oppa kann sich die Jacke nicht mehr selber anziehen“, „Guck mal, bei der guckt das eine Auge nach links und das andere nach rechts“, dabei lachte er wie ein kleiner Junge. Es ist halt wie mit einem Kleinkind, dem erklärt man ja auch, dass man nicht unbedingt alles laut durchs Wartezimmer ruft, was einem gerade durch den Kopf geht.
Irgendwann war dann unser großer Augenblick gekommen, sein Hausarzt drückte mir einen Becher in die Hand und sagte: „Bringen Sie bitte in den nächsten Tagen eine Stuhlprobe Ihres Vaters vorbei“. Das war der Punkt, wo ich dachte „Ok, ich bin raus. Nein, Nein, Nein. Nein! Auf keinen Fall, das mache ich nicht. Nope.“ Auf der Rückfahrt nach Hause überlegte ich krampfhaft wie ich aus dieser Nummer wieder raus kommen sollte, während Papa mir gefühlt 250 Mal erzählte: „der Arzt ist aber auch dick geworden, den kenn ich noch von früher, da war der nicht so dick“. Ich hätte ihn in dem Moment gerne geschüttelt und panisch gerufen „Papaaaa, der blöde, dicke Arzt will, dass ich in deinem großen Geschäft wühle! Ist dir das klar??!!“
Ich meine, wir reden hier vom großen Geschäft … Kacke! Kacke, die ich in einer kleinen, mini Dose auffangen und zum Arzt bringen sollte. Stuhlprobe hört sich vielleicht noch ganz hübsch an, aber letztlich ist und bleibt es einfach Kacke.
Zu Hause angekommen, hatte ich die Entscheidung getroffen, dass ich es durchziehen würde. Augen zu und durch. Ich ging also mit dem Kacke-Auffang-Pott zu meinem Vater und erklärte ihm in aller Ruhe, was nun auf uns beide zukommen würde. Ich werde nie seinen Gesichtsausdruck vergessen… Er lachte, schüttelte den Kopf und machte mir sehr deutlich, dass er unter gar keinen Umständen vor mir in diesen kleinen Pott machen würde!! Ich möchte an dieser Stelle ehrlich sagen: Ich bin ihm bis heute dankbar dafür! ;)
Demenz ist ein Arschloch, keine Frage. Allerdings hatte diese schlimme Krankheit auch etwas Gutes, etwas Heilsames für uns. Ebenso wie Papa vergaß wie man Tee kocht oder sich die Haare kämmt, vergaß er aber auch sich hinter einer Mauer zu verstecken um nichts fühlen zu müssen, er vergaß sich zu verhärten und nichts an sich ranzulassen. Er wurde weich, sein Herz öffnete sich und plötzlich konnte er seine Liebe wieder spüren und zulassen. Er konnte mir auf einmal sagen, dass er mich liebte, dass ich doch seine Kleine bin, dass er stolz auf mich ist, dass ich eine gute Mutter bin… Er blühte in der Gegenwart meiner Tochter auf, er ging mit ihr spazieren, lachte und kümmerte sich liebevoll. Für Hanna war er einfach Opa, sie wollte immer zu ihm, auf seinem Schoß sitzen und seine Geschichten hören.
Auf Papas Beerdigung sagte meine Schwester einen Satz, den ich nie vergessen werde: „Ein Herz wird nicht dement“. Damit brachte sie alles auf den Punkt. Sein Herz durfte nach Jahren des Schmerzes, der Trauer und der Einsamkeit endlich aufwachen und leben. Sein Kopf vergaß zu Denken, aber sein Herz wusste wieder zu Fühlen.
Wenn ich heute auf diese Zeit zurückschaue, bin ich froh, dass wir für eine Zeit zu ihm gezogen sind. Ich glaube, dass alles immer auch sein Gutes hat und einem dient. Jede schwere Situation hält etwas bereit, an dem wir lernen und wachsen können.
Einen Angehörigen zu pflegen ist keine leichte Aufgabe und ich habe dadurch einen riesigen Respekt vor allen, die sich dieser Aufgabe stellen, entwickelt. Zu Pflegen bedeutet auch sich selbst zu pflegen. Ich habe das in der Zeit nicht getan, ich habe einfach funktioniert und erst angefangen zu verarbeiten, nachdem Papa gestorben war.
Mein Rat daher an alle, die einen Angehörigen pflegen, ist das, was ich mir heute sagen kann: Vergesst euch dabei nicht, es darf euch überfordern, es darf euch schlecht gehen, ihr dürft genervt sein, traurig, wütend… es darf alles sein. Wir sind alle nur Menschen. Ihr leistet Großartiges, auch wenn ihr euch nicht so fühlt.
Danke von Herzen für Eure lieben Kommentare ♥️
Deine Worte haben gerade bei mir sämtliche Schleusen geöffnet 😢, das hast du soooo berührend und liebevoll geschrieben! Danke, dass du mir meinen Papa dadurch noch ein Stück näher gebracht hast 😘❤
So wundervoll🙏🏻🤍
Och, wie schön du das wieder geschrieben hast. Ich bin zutiefst bewegt. In der Tat war es die heftigste und gleichzeitig die schönste, heilvollste Zeit mit Papa. Das wichtigste, was ich lernen durfte: Herz öffnen, Gefühle zeigen, jeden Tag genießen und dankbar sein für die kleinen, schönen Momente im Leben. Ich vermisse Papa so sehr.
Wundervoll, dass du durch deinen Blog nochmal an ihn erinnerst. ♥️