Gesunde Grenzen zu setzen - das ist gar nicht so leicht, aber (meiner Meinung nach) enorm wichtig.
Meinen Schülerinnen (ich grenze mich hier übrigens vom gendern ab), sage ich das immer wieder: „Grenzt euch ab! Wenn eure Patienten euch dafür verantwortlich machen, dass sie keine Fortschritte in ihrer Therapie sehen, dann dürft ihr euch abgrenzen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Wir können unseren Patienten einen Weg aufzeigen, aber gehen müssen sie ihn dann selber.“
Das entspricht absolut der Wahrheit, allerdings fällt mir das in meinem eigenen Leben noch immer schwer. Warum? Zum einen, weil ich ein „people pleaser“ bin, heißt: Ich möchte immer, dass andere sich wohl fühlen und es ihnen gut geht. Darüber vergesse ich mich oft selber. Ich gehe dann über meine Grenzen, obwohl sich das für mich nicht gut anfühlt. Zum anderen habe ich es nie gelernt mich gesund abzugrenzen. Das ist kein Vorwurf an meine Eltern, denn die haben es auch nicht gelernt. Sie konnten mir das also gar nicht beibringen.
Heißt im Klartext: Da prallen zwei Komponenten aufeinander, die gesundes Abgrenzen ziemlich schwierig machen ;) Ich glaube, dass dieses Phänomen sehr viele von uns kennen.
Die gute Nachricht ist: Man kann lernen sich gesund abzugrenzen!
Warum sollte man sich denn überhaupt abgrenzen, tut das wirklich Not? JA! Ich sage ganz klar: JA! Wie gesagt, gesund abgrenzen! Es geht also nicht darum, immer und überall in Abwehrhaltung zu sein, vehement den Kopf zu schütteln und „Neeeeiiiinnnnnn, ich grenze mich ab!“ zu brüllen. Vielmehr geht es darum, auf sich selbst gut Acht zu geben und auch mal „Nein“ sagen zu dürfen. Du musst z.B. nicht immer für alle und jeden erreichbar sein, du musst auch nicht jedem Hans und Franz beim Umzug helfen, genausowenig musst du jedem zuhören, für jeden da sein etc.pp.
Die Abgrenzerei geht aber noch weiter. Du darfst dich auch da abgrenzen, wo andere dir zuviel werden, dir weh tun (aufgrund eigener Themen, die jeder von uns hat). Selbst guten Freunden und der Familie darf man sagen: Ich kann und/oder möchte heute nicht.
Gesunde Grenzen beginnen dort, wo du bei dir bist und bleibst. Das bedeutet, dass du dich selbst so wertschätzt und dir so wichtig bist, dass du den Mut aufbringen kannst jmd. vor den Kopf zu stoßen. Denn meist fühlt sich das für die andere Person genauso an. Wenn du immer da warst und dann „plötzlich“ sagst: „Hier ziehe ich jetzt eine Grenze und ziehe mich zurück von dir“, kommt das für die andere Person unerwartet. Diverse Ängste werden getriggert, z.B. Verlustangst oder Ablehnungsangst. Gesund ist es ebenfalls, sich davon dann zu distanzieren. Auch, wenn du durch deine Grenze Ängste triggerst, bist du nicht die Ursache dafür. Menschen, von denen ich mich abgegrenzt habe, haben fast immer mit Wut reagiert. Warum ist das so? Hinter jeder Wut, steckt ein Schmerz und dieser Schmerz resultiert aus einer Angst heraus, die tief in uns verborgen liegt. Wut deckelt nur den Schmerz. Wut ist oft leichter für uns zu händeln, weil wir dann in Aktion bleiben. Wut bewegt uns. Schmerz lähmt uns im ersten Moment, er nimmt uns die Luft zum atmen und erschreckt uns. Daher reagieren viele Menschen, von denen man sich abgrenzt, zuerst mit Wut. Da darf man dann sagen: „Das ist gerade deine Wut, dein Schmerz, ich bin nicht die Ursache dafür“.
Hört sich theoretisch super an, oder? In der Praxis ist das dann schon etwas anderes ;)
Natürlich wurde ich verletzt, wenn ich (wenn auch ungewollt) eine Person verletzt habe, dadurch, dass ich eine Grenze gezogen habe. Das fühlt sich beschissen an und tut weh. Natürlich schaffe ich es nicht jedes Mal zu sagen "Ok, kein Thema - ich bin nicht die Ursache, ich distanziere mich hier". Nope! Oft genug habe ich gedacht "Leck mich doch am Arsch". Auch das lernt man irgendwann. Man lernt die verletzte Seele im anderen zu sehen, genauso wie man seine eigene Verletztheit sehen kann.
Ich habe gelernt, dass es trotzdem leichter ist, sich abzugrenzen und dann Gefahr zu laufen, dass die andere Person verletzt ist, als sein Leben lang unglücklich zu sein, weil man in einer Situation stecken bleibt, die einem nicht gut tut. Wenn du also in einer Situation bist, wo du merkst, dass etwas sich nicht mehr stimmig für dich anfühlt, dann schau genau hin und zieh dort eine Grenze, wo es nötig ist. Vereinfacht gesagt: Schütz dich selber. Das darf jeder und sollte jeder tun.
Dieser Text soll nur ein kurzer Querschnitt durch das Thema "Abgrenzen" sein. Man könnte ganze Bibliotheken damit füllen - was ich vermutlich irgendwann auch tun werde ... ;)
Ob Ängste oder Grenzen (oder beides). Solche Themen mit so einem Schreibtalent wieder zu geben macht ja schon faßt Lust sich mit beiden zu beschäftigen. Ansich gehören sie ja tief unten in die Verdrängungskiste. Imke, Hut ab dafür. Haste toll gemacht. Jetzt Tasse Kaffee und ein Brötchen (keine Angst, sind selten Rasierklingen drin), dann weiter schreiben. Nur wer seine eigenen Talente ignoriert, verliert.😉